Nachruf auf Inge Deutschkron (23.8.1922-9.3.2022)

28.03.2022: Nachruf auf eine Freundin, mutige Frau und herausragende Zeitgenossin. Von Franziska Becker.


Inge Deutschkron (23. August 1922 - 9. März 2022)

"Unsere kämpferische, tatkräftige und hilfsbereite Freundin ist gegangen. Sie war eine kluge Zeitzeugin, ein ´Glücksfall für die Zeitgeschichte`. Ihr Auftrag, nicht nachzulassen, über die Verbrechen der Nationalsozialisten aufzuklären, das Gedenken an die Opfer wach zu halten und gegen jegliche Menschenrechtsverletzungen und neue Verbrechen vorzugehen, bleibt uns Verpflichtung. Wir werden Inge vermissen", so der Text der Traueranzeige der Freundinnen und Freunde.

Ich habe Inge Deutschkron im Herbst 2010 kennengelernt. Wir waren in ihrer Wohnung verabredet, um Fotos für meinen ersten Wahlkampf zu machen.

Deutschkron & Becker (Foto: M. Zipser, 2010)

Seitdem verbinden mich mit Inge viele großartige und inspirierende Stunden, die ich nicht vergessen werde. Gemeinsam haben wir Ausflüge unternommen, etwa zum Spargel oder Wildschwein essen (Inges Geheimtipp) im Brandenburgischen, wir haben ihren Geburtsort Finsterwalde und das dortige Museum besucht. Wir haben ihre Geburtstage in großer Runde gefeiert, die Tage, an denen Inge ihr "Überleben" feierte. Ebenso 2014 die Premierenfeier von "Ein blinder Held - Die Liebe des Otto Weidt", der Inges Leben - neben der Theateradaption "Ab heute heißt Du Sara" durch das Grips-Theater und der berühmten Buchveröffentlichung "Ich trug den gelben Stern" - filmisch darstellte. Der Film verbindet historische Originaldokumente des 2. Weltkrieges mit Spielszenen sowie mit Redebeiträgen und Kommentaren von Inge Deutschkron. Den Film konnte ich im Beisein Inges auch im Bundesplatz-Kino zeigen. Nicht vergessen werde ich die Sonntagnachmittage in familiärer Atmosphäre bei Inge mit Kaffee und Kuchen, wo wir u.a. die Übergabe ihres privaten Archivs an das Literaturarchiv der Akademie der Künste vorbereiteten. Faszinierend waren alle ihre Erzählungen, die guten wie schlechten Erlebnisse aus der jüngeren deutschen Geschichte und ihr stetes Mahnen gegen das Vergessen. Beeindruckend ihr Gedächtnis und ihre Art und Weise, Dinge aus den Jahrzehnten zuvor so lebendig zu erzählen, als wären sie ihr gestern passiert.

Gerne habe ich Inge den nicht ganz alltäglichen Wunsch nach einem Liederabend Singe mit Inge im Willy-Brandt-Haus mit Sigmar Gabriel, vielen Genoss:innen und dem Hanns-Eisler-Chor, erfüllt. Inge sang für ihr Leben gerne, besonders sozialistische Arbeiterlieder, weil sie das an ihre Kindheit und ihr Elternhaus erinnerte.

Singe mit Inge (Foto: A. Kehmeier)

Ebenso gerne unterstützte ich Inge bei ihrem großen Wunsch, dass in Berlin ein Platz nach Otto Weidt benannt wurde. Die Benennung des Otto-Weidt-Platzes in der neuen Europa-City am Hauptbahnhof im April 2018 gehen auf ihr hartnäckiges Engagement zurück.

2017 habe ich dem Regierenden Bürgermeister von Berlin vorgeschlagen, Inge Deutschkron zur Ehrenbürgerin zu ernennen, was 2018 geschehen ist.

Portrait der Ehrenbürgerin Inge Deutschkron

2011 habe ich Inge interviewt und sie gefragt, was wir tun können, damit die Erinnerung nicht verblasst, wenn die Zahl der Menschen abnimmt, die die damalige Zeit im Dritten Reich miterlebt haben (Interview).
Inges Antwort: Schon jetzt gibt es nur noch wenige Menschen, die über diese Zeit berichten können, entweder aus Krankheits- oder aus Altersgründen. Es ist schwer vorauszusagen, ob die vielen Bücher, Filme und Dokumente über dieses Thema ausreichen werden, um den nachfolgenden Generationen das damalige Geschehen als Wirklichkeit zu vermitteln. Nun handelt es sich bei dem Thema Holocaust für die meisten Menschen um eine unbegreifliche Materie. Und Unverstandenes bleibt lebendig, je nach Temperament, als störende Frage oder quälendes Problem. Und solange die Frage Rätsel aufgibt, besteht auch die Gefahr, ähnlicher Verbrechen wie damals, als man die Menschen sortierte, diskriminierte, quälte und schließlich mordete. Umso wichtiger, ja unerlässlicher ist es, dass das Thema Nationalsozialismus breiten Raum einnimmt im Lehrplan unserer Schulen. Und wenn es nur dazu dient, Gefahren ähnlicher Art zu erkennen und ihnen rechtzeitig zu begegnen. Die Menschheit wird von den Gefahren solcher Verbrechen erst frei sein, wenn die gesellschaftlichen, sozialen und politische Hintergründe, die den Nazis den Weg zur Macht bereiteten, wirklich aufgeklärt sind. Das bleibt auch unser aller Aufgabe.

Ich habe Inge als eine stets kritisch am aktuellen Zeitgeschehen interessierte Frau erlebt, mutig und streitbar, immer ganz Berlinerin, voller Ideen, offen und optimistisch und vor allem warmherzig und liebevoll hinter der manchmal schroff wirkenden Schale.

Ich werde mich an meine Freundin Inge Deutschkron stets in Liebe erinnern.

Mehr über Inge Deutschkron:
Persönlicher Nachruf von André Schmitz, der Inge Deutschkron als Freund und Unterstützer eng verbunden war.

Im Oktober 2014 las Inge Deutschkron ihre bewegende Bundestagsrede "Zerrissenes Leben" anlässlich des Holocaustgedenktages am Januar 2013 noch einmal in meinem Wahlkreisbüro.
Der Tagesspiegel dokumentierte die Lesung damals.

Erinnerungen an Inge Deutschkron durch die Inge Deutschkron Stiftung und die Schwarzkopf Stiftung

Erinnerung von Paul Nemitz (in Deutsch und Englisch)

2015 mit Inge und Martin Erlenmeier vom und vorm Bundesplatz-Kino

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